Shelly Silver, USA
"Meet the People"
USA 1986, Video, 16:32 min, col
Es sind offensichtlich Fiktionen des Selbst, die Shelly Silver in ihrer tour-de-force Meet the People beschäftigen. Im Stil eines Video Vérité schneidet sie eine schnelle Folge von Gesprächsfragmenten aneinander, die sich als Interviews herausstellen, die sie mit 14 Personen als typischen RepräsentatInnen des heutigen New Yorks geführt hat: ein Taxifahrer, eine Kellnerin, eine Hausfrau, eine Stripperin, ein italienischer Bauarbeiter, ein schwarzer Armeeoffizier. Die Charaktere blicken in die Kamera während sie als Talking Heads von ihrer Arbeit und ihrem Privatleben, ihren Träumen und Zukunftsvorstellungen erzählen. Die Intimität und Ehrlichkeit ihrer fragmentierten, autobiografischen Erzählungen ist täuschend, am Ende erfährt man durch den Abspann, dass alle 14 SchauspielerInnen sind und in ihren Interviewbeiträgen offenbar dem Drehbuch der Regisseurin gefolgt sind.
Shelly Silver zeigt wie irreführend und unterhaltsam die vorproduzierten Charaktere des angeblichen TV-Realismus sind, von ihren Kommentaren des Menschen auf der Straße zu den Nachrichten, bis zu den Castings mit echten Menschen in Werbespots. Silver's gefälschter Dokumentarfilm fragt auch, was das Stereotyp vom Individuum trennt und wie wir einzigartige Charaktere und soziologische Typen konstruieren - die nicht-verbalen Aspekte der Physiognomie, Kleidung, Akzent, Ausdruck etc. als Zusatzinformation zu dem gesprochenen Wort. Silver stellt auf humorvolle Art und Weise die Idee des Authentischen in Frage - zuguterletzt, so scheint es, ist die persönliche Wahrheit eine temporäre und gemeinsam entwickelte Erfindung, eine drei Punkte verbindende Brücke zwischen Schauspieler, Autor-Regisseur und Publikum, im Fernsehen und auf der Straße.
(Anne Hoy)
Shelly Silver
Geboren 1957. Abschluss als B.A. und B.F.A. an der Cornell University und Teilnahme am Whitney Museum of American Art Independent Study Program. In ihren Filmen lässt Silver Echt- und Falschheit, Trick und Realität verwischen. Sie kombiniert häufig stilisierte Schwarzweiß-Filme mit Farbvideos, bruchstückartige Bilder mit geschriebenem Text und Ton, Bestandteile von Dokumentarfilmen und Melodramen mit Komödien. Sie bekam Stipendien vom National Endowment for the Arts, Media Bureau und dem New York State Council on the Arts. Ihre Arbeiten wurden bei verschiedenen Festivals und Institutionen gezeigt wie dem Museum of Modern Art, New York; The Kitchen, New York; Torino International Film und Video Festival, Italy; Centre Georges Pompidou, Paris; World Wide Video Festival, The Hague; Berlin Film Festival; Artists Space, New York; The New Museum of Contemporary Art, New York; Halle Sud, Geneva; Laforet Art Museum, Tokyo. Silver lebt in New York